Noces Belgien, Frankreich, Luxemburg, Pakistan 2016 – 98min.

Filmkritik

Eine Tragödie in drei Akten

Irina Blum
Filmkritik: Irina Blum

Traditionelle Rollenbilder, Zwangsabtreibungen, per Internet arrangierte Ehen: Was man zunächst definitiv nicht einem fortschrittlichen Land wie Belgien zuordnen würde, passiert tatsächlich – und zwar überall in Europa. Genau diese Problematik von Parallelgesellschaften macht Stephan Streker im bitter-süssen Drama Noces zum Thema.

Zahira (Lina El Arabi) ist eigentlich ein ganz normaler Teenie, den man überall in Europa so antreffen könnte: Die in Belgien aufgewachsene junge Frau rebelliert ab zu gegen ihre Eltern, ihre persönliche und sexuelle Entwicklung ist in vollem Gange und nebenbei macht sie ihre ersten romantischen Erfahrungen. Auf den zweiten Blick ist bei der eigenständigen Zahira aber alles ein wenig anders: Sie ist schwanger, und ihre Eltern, traditionelle Pakistani, sind davon überhaupt nicht begeistert – sie schicken Zahira zur Abtreibung und organisieren drei Heiratskandidaten, von denen Zahira einen per Skype auswählen soll. Doch so leicht lässt sich die junge Frau nicht unterkriegen, und erhält dafür zunächst auch Rückendeckung ihres älteren Bruders Amir (Sébastien Houbani) sowie eines Freundes der Familie.

„Man muss sich ja anpassen“, meint Zahiras Mutter (Nina Kulkarni), als sie und ihr Mann (Babak Karimi) Zahira eröffnen, dass sie als Konsequenz von ihrer unerwünschten Schwangerschaft sowie einer Abtreibung drei Heiratskandidaten für die 18-Jährige ausgesucht haben, die sie nun der Reihe nach per Skype kennenlernen soll. Der Zuschauer ist dabei immer ganz nahe an Zahira dran und erlebt den Clash zwischen Tradition und Moderne und vor allem der zwei unterschiedlichen Kulturen so unmittelbar: Ihre Freizeit verbringt Zahira mit ihrem belgischen Freundeskreis, in der Schule trägt sie Kopftuch, zu Hause hat – wenn nicht ihr Vater – vor allem Bruder Amir das Sagen.

Regisseur Stephan Streker erweitert die Coming-Of-Age-Komponente von Noces geschickt um die Frage der Integration und der Gefahr von Parallelgesellschaften. Was nämlich auf den ersten Blick wie eine angepasste und fortschrittliche Familie mit Migrationshintergrund wirkt, entpuppt sich auf den zweiten Blick spätestens nach Zahiras Fehltritt und der anschliessend arrangierten Fernehe als Trugschluss: Man passt sich zwar an, aber spätestens bei fundamentalen Fragen wie der Stellung der Frau innerhalb der Familie, Sex vor der Ehe oder dem Heiraten ausserhalb des Kulturkreises ist es bei den Eltern der pakistanischen Familie mit der Toleranz vorbei. Zahira ist dabei hin- und hergerissen zwischen den Erwartungen ihrer Familie und ihren eigenen Vorstellungen von einem selbstbestimmten Leben. Die Newcomerin Lina El Arabi spielt die gebrochene und dennoch willensstarke junge Frau so subtil wie überzeugend, aber auch der restliche Cast trägt diese starke und bitter-süsse Geschichte, die sich im Laufe der knapp 90 Minuten immer mehr von der authentischen Coming-of-Age-Story zum tragischen Psycho-Thriller entwickelt. Stimmungsvoll zieht einen Streker so in eine Welt hinein, die einem zunächst sehr vertraut vorkommt, mit der Zeit aber immer fremder wird und einen mit dem dramatischen und fesselnden Schlussakt fassungslos zurücklässt: Die Botschaft des Films kommt damit auf jeden Fall an.



14.12.2017

4

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