CH.FILM

L'Île aux oiseaux Schweiz 2019 – 62min.

Filmkritik

Die Behutsamkeit des Seins

Irene Genhart
Filmkritik: Irene Genhart

Sergio da Costa und Maya Kosa erzählen in ihrem semifiktiven Dokumentarfilm, wie verletzte Vögel und ein erschöpfter junger Mann ins Leben zurückfinden.

Im Ornithologischen Zentrum in Genthod am Genfersee werden verletzte und kranke Vögel gepflegt und auf die Wiederauswilderung vorbereitet. Hierher verschlägt es vermittelt von einer Wiedereingliederungsstelle Antonin, einen jungen Mann, der nach langer Krankheit zum ersten Mal im Leben einer geregelten Arbeit nachgehen soll. Antonin – er wird in seiner ersten Rolle sensibel verhalten gespielt von Antonin Ivanidze – wird Paul unterstellt, der als Frass für die Greifvögel Ratten und Mäuse züchtet. Er wisse nicht, ob er das könne, sagt der auch als Ich-Erzähler funktionierende Antonin: Ratten an den Schwänzen von Käfig zu Käfig zu bugsieren oder Mäusen das Genick zu brechen ist nicht jedermanns Sache.

Doch Paul – er wird gespielt von Paul Sauteur, der sich weitgehend selber spielt, – hat selber keine einfache Biographie und viel Verständnis und Geduld. Überhaupt ist diese Vogelpflegestation, die unweit von einem stark frequentierten Flughafen liegt und deren gefiederten Bewohner unablässig zwitschern, zirpen, pfeifen, ein erstaunlich ruhiger und beruhigender Ort. Vor allem die junge Tierärztin Emilie, die Schwänen in Not genauso behutsam hilft wie verletzten Singvögeln oder einer erschöpften Eule, strahlt eine wohltuende Konzentration und Ruhe aus. Dies, obwohl die Zahl der verletzten Tiere permanent steigt und Emilie und die ihr assistierende Tierpflegerin Sandrine alle Hände voll zu tun haben.

Sergio da Costa und Maya Kosa erzählen an der Grenze von Dokument und Fiktion bedachtsam beobachtend und lassen ihren gefiederten und menschlichen Protagonisten dabei viel Zeit. Sie hätten, geben die Filmemachenden in Interviews an, sich für diesen Film an Robert Bressons „Journal d’un curé de campagne“ von 1951 orientiert. Es eine gewisse Ähnlichkeit nicht von der Hand zu weisen: Antonin, obwohl er im Verlaufe des Films erstarkt und in seine Aufgabe und das Arbeitsteam hineinwächst, ist und bleibt ein von seiner Krankheit gezeichneter Solitär und ein bisschen auch ein Sonderling. So verweist dieser Film, so kurz er mit seinen 61 Minuten auch ausfällt, doch über sich hinaus auf die Filmgeschichte. Er verweist aber auch auf eine Behutsamkeit des Seins, die, wenn nicht in Realität – das Ornithologischen Zentrum in Genthod beschäftigt anders als im Film gezeigt nicht nur eine Handvoll, sondern Dutzende von Personen –, so doch in diesem Film, in der Wohltat des Sich-Bescheidens gründet.

13.07.2020

3.5

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