CH.FILM

Verdinger Schweiz 2019 – 90min.

Filmkritik

Versklavt und geprägt für immer

Björn Schneider
Filmkritik: Björn Schneider

Verdinger erzählt die Geschichte von Alfred Ryter, der als Verdingbub im Berner Oberland rohe Gewalt, Essensentzug und Verachtung erfahren hat. 



Ryter war noch ein Kind, als er erstmals verdingt wurde und schwere Arbeit auf dem Hof einer Bauernfamilie und im Wald verrichten musste. Unterernährt und ausgebeutet, litt der Junge unter den harten Bedingungen. Noch heute spürt er die Schläge und die Kälte. In der Doku Verdinger berichtet er von damals und schildert, wie er trotz aller Benachteiligungen und der psychischen Folgen sein Leben meistern konnte.

Mit Einfühlungsvermögen und einem beachtlichen Gespür für die Befindlichkeiten seines Protagonisten, inszeniert Saschko Steven Schmid das Porträt eines Mannes, der nicht nur seiner Kindheit, sondern in gewisser Weise seines ganzen Lebens beraubt wurde. Denn bis heute quälen Ryter die Erinnerungen an jene acht Jahre in der Fremde. Hier und da kämpft er im Gespräch mit den Tränen, bleibt in seinen Äusserungen insgesamt dennoch erstaunlich gefasst, bestimmt und stets hochkonzentriert.

Bevor es um die Verdingung geht, reist Schmid mit dem Zuschauer zurück in die früheste Kindheit von Ryter. Eine Zeit, geprägt von einem Gefühl der Behütung und Liebe. Denn die Eltern hatten zwar wenig Geld, ihren Nachwuchs (Ryter hatte fünf Geschwister) aber liessen sie all ihre Zuneigung spüren.

Dieses Gefühl der „Nestwärme“ transportiert der Film durch nachgestellte Spielszenen: Man sieht eine Grossfamilie, wie sie in einer gemütlichen Stube eng beieinandersitzt. Der Vater gibt dem Jüngsten etwas zu Essen, die Geschwister spielen miteinander und die Mutter strickt in ihrem Schaukelstuhl. Auch die Tonspur, zu hören sind sanfte Klavierpassagen, vermittelt eine Atmosphäre der Geborgenheit. Wenig später wird Ryter erstmals verdingt, denn durch die Krankheit der Mutter konnte der Vater nicht mehr für die Familie sorgen.

Immer wieder visualisiert Schmid Ryters Schilderungen und übersetzt diese in dringliche Bilder und Szenen: vom Moment der „Übergabe“ an die Bauernfamilie über die unmenschliche Unterbringung in einer heruntergekommenen Scheune bis hin zur Schwerstarbeit im Wald. „Es hat Wochen gedauert bis ich realisierte: Ich bin bei Fremden und nicht Daheim“, sagt er. Stallarbeiten, Holz fällen und sägen, das Schleppen von 25-Kilo-schweren Fässern durch unwegsames Waldgebiet. Für den damals gerade Siebeneinhalbjährigen trauriger Alltag.

Schmid nutzt geschickt die – oft düstere – Farbgebung sowie einen stetigen Wechsel von Licht und Schatten, um dem Zuschauer das Leid des ausgebeuteten Jungen nahe zu bringen – und damit letztlich das Schicksal aller ehemaligen Verdingkinder, von denen in der Schweiz heute noch eine fünfstellige Zahl lebt und unter den traumatischen Erlebnissen leidet.

01.09.2020

4.5

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