Kleine schmutzige Briefe (Wicked Little Letters) Frankreich, Grossbritannien 2023 – 102min.
Filmkritik
Obszöne Briefe für spiessige Kleinstädter
Eine rehäugige Olivia Colman, eine Kleinstadt in moralischer Aufruhr, bissige Dialoge und ein Haufen unflätiger Briefe – «Wicked Little Letters» hat alles, was eine gute britische Komödie braucht. Und überrascht mit Tiefgang.
Um 1920: Littlehampton ist ein kleiner Badeort am Meer, jeder kennt jeden und das Brodeln der Gerüchteküche hört niemals auf. Die Empörung ist gross, als Edith Swan, die unverheiratet ist und noch bei ihren Eltern lebt, Briefe erhält, die vor Beschimpfungen nur so triefen. Schnell fällt der Verdacht auf Ediths Nachbarin Rose, die für ihre unangemessene Feierwütigkeit und loses Mundwerk bekannt ist. Als bald noch mehr Stadtbewohner unflätige Briefe erhalten, beginnt eine wilde Jagd nach dem Täter – Beweise egal.
«Wicked Little Letters» ist eine britische Komödie wie sie im Buche steht – zu der ausgesprochen witzigen Prämisse gesellt sich ein grandioses Drehbuch und eine Riege von namhaften SchauspielerInnen, die die schnellen Dialoge auf den Punkt wiedergeben können. Der Grundpfeiler des Films ist der niemals langweilig werdende Widerspruch zwischen dem moralisch streng geregelten Leben der Figuren und den schreiend komischen, unanständigen, von kreativen Ausdrücken gespickten Briefen.
Doch, und das macht «Wicked Little Letters» zu etwas Besonderem, es bleibt nicht nur beim Komischen. Eingebettet in die skurrile Erzählung, die übrigens auf wahren Begebenheiten beruht, findet sich ein Familiendrama mit einem tyrannischen Vater (Timothy Spall), der die unterwürfige Edith (Olivia Colman) in seiner Hand hat. Hinzu kommt neben der Verhandlung von Moral und Menschlichkeit ausserdem ein zunächst unterschwelliger Feminismus – hier zwar augenzwinkernd, aber dadurch nicht weniger schlagkräftig.
Immer wieder werden die kaum zu erreichenden moralischen Standards infrage gestellt, denen die Frauen gerecht werden sollen. Die Einbettung der Geschichte in den Kampf der englischen Suffragetten um das Frauenwahlrecht bleibt in «Wicked Little Letters» nur eine Randnotiz, trotzdem wird in den Gesprächen der Frauen deutlich, dass sie ihre untergeordnete Rolle mehr und mehr ablehnen – vor allem, weil sie während der Kriegsjahre alle sogenannten «Männerberufe» ausgeübt haben. Am deutlichsten wird die feministische Kritik allerdings im Familiengefüge Ediths und in der Figur von Gladys Moss (Anjana Vasan), die als erste weibliche Polizistin im Ort täglich mit den Herabsetzungen durch ihre Kollegen zu kämpfen hat.
Wie nicht anders zu erwarten, stiehlt Oscar-Preisträgerin Olivia Colman mit ihrem Schauspiel allen die Show. Mit grossen, traurigen Augen und zittriger Stimme gibt sie die streng gläubige perfekte Tochter und Nachbarin, die allerdings der Versuchung der neu erfahrenen Aufmerksamkeit durch die Briefe immer wieder erliegt. Nur Timothy Spall, der mit aller Drastik das grausame Familienoberhaupt gibt, kann ihr darstellerisch das Wasser reichen.
«Wicked Little Letters» ist ein sehenswerter und ungemein komischer Film, der Fans der britischen Komödie zweifellos Freude bringen wird. Leider driftet das Ganze vor allem in der eingebauten Detektivgeschichte ab und zu in Richtung Klamauk und tut sich mit einigen Slapstick-Einlagen keinen Gefallen. Die messerscharfen Dialoge und die thematische Vielfalt des Films können das aber zum Grossteil aufwiegen.
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Kommentare
Selten habe ich das ganze Publikum derart laut lachen hören, während ich mir die Tränen der Rührung abwischte. Brilliant gespielt vom ganzen Ensemble. Zwänge und die Befreiung aus den engen gesellschaftlichen Zwängen glaubhaft, empathisch dargestellt. Sackstarke Frauen mit grossartigem, unverschämtem Humor! Absolut empfehlenswert!… Mehr anzeigen
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